Die Kritik bezieht sich auf Sahra Wagenknechts Video vom 27.1.2022.
Zu Beginn stellt sie erst einmal ein Strohmannargument auf, dass es bei der Impfpflicht um die Impfquote ginge. Wir brauchen aber keine Impfpflicht, weil sich wenige Leute impfen lassen. Wie viele Leute sich impfen lassen ist erst einmal völlig egal. Relevant ist, wieviele Leute gefährdet sind, inwiefern die Impfung die Weitergabe des Virus verhindert und wieviele der gefährdeten Leute geimpft sind. Auch spielt eine generelle gesellschaftliche Frage eine Rolle: Wollen wir Leute zu ihrem Glück zwingen wenn sie die (häufig irrationale) Entscheidung fällen, sich nicht impfen zu lassen? Auf welcher Basis haben diese Leute ihre Entscheidung gefällt? Was ist, wenn sie die Entscheidung auf Basis einer Lüge gefällt haben? Ist es dann die Rolle des Staates hier schützend einzugreifen?
Dann erwähnt sie die Sonderrolle Deutschlands bzgl. der Datenhaltung: das hat natürlich mehrere Gründe. Wichtigster Grund ist, dass Deutschland generell sehr dezentral aufgestellt ist. Berlin ist zwar unsere Hauptstadt, aber tatsächlich kaum mit Paris oder London zu vergleichen. Deutschland ist als Bund vieler Kleinstaaten entstanden. Zweiter Grund ist die Haltung zum Datenschutz. Z.B. eine elektronische Gesundheitsakte wird seit Jahrzehnten ohne Erfolg versucht umzusetzen. Gleichzeitig sind es doch oft die Maßnahmenkritiker die sich GEGEN eine “Diktatur” aussprechen. Wie sähe denn eine Diktatur aus? Richtig, die Daten laufen an einer Stelle zusammen. Diese unterschwellige Kritik an der Datenlage ist deshalb widersprüchlich.
Als nächstes führt sie das Argument an, dass die Impfquote eigentlich deutlich höher ist. Als Grund für die Diskrepanz wird aber angegeben, dass vor allem bei unter 60-Jährigen der Stand unklar ist, u.a. wegen Schwierigkeiten bei der Meldung von Daten von Betriebsärzten. Unter 60-Jährige sind aber gerade nicht die primär gefährdete Gruppe.

https://www.tagesschau.de/inland/corona-deutschland-impfen-101.html
Dann betrachtet sie die Impfquoten in Europa. In ihrer Grafik betrachtet sie geschickterweise aber nur die zweifach Geimpften. Einen deutlich besseren Schutz ergibt sich aber nach dreifacher Impfung. Das liegt weniger an der Zahl drei, als daran, dass besonders guter Schutz durch die Impfung gewährleistet ist, wenn zwischen erster und zweiter Impfung 6 Monate liegen. Da nach der ersten Impfung nur geringer Schutz besteht, macht es dennoch Sinn, sich dreimal zu impfen. Also zweimal kurz hintereinander und dann nach 6 Monaten nochmals.
Wo steht Deutschland bei den Booster-Impfungen? Da fallen wir (zumindest bei über 80-Jährigen) in Europa schon auf Platz 16 von 28. Und gerade in der Altersgruppe fehlen uns eben die Daten nicht. Und selbst wenn, wenn wir 5% mehr hätten, wären wir immer noch auf Platz 16.

https://vaccinetracker.ecdc.europa.eu/public/extensions/COVID-19/vaccine-tracker.html#age-group-tab
Sie gibt erst später zu, dass ihre ursprünglich genannten Zahlen nicht belastbar sind. Das ist natürlich geschickt gemacht, weil sie ja jetzt mit dem eigentlich falschen Argument den Zuschauer schon eingelullt hat. Bzgl. des Seitenhiebs mit der Impfpflicht der Jüngeren: Grundsätzlich hat sie Recht, dass man eigentlich nur eine Impfpflicht für Ältere bräuchte. Idealerweise würden wir primär die Risikogruppe impfen. Was aber, wenn diese nicht möchte? Da ist wieder die Frage nach dem “Sollten wir Menschen zu ihrem Glück zwingen?” Wenn die Antwort darauf Nein heißt, geht die Politik den Weg des geringeren Widerstands und wendet sich eben an impfwilligere Jüngere. Jedes Bisschen hilft, d.h. natürlich hilft es auch Älteren indirekt, wenn wir Ansteckungen und Erkrankungen bei Jüngeren verringern.
Dann betrachtet sie wieder über 60-Jährige und bringt nochmal das Argument mit der Unterschätzung. Wie vorher schon angemerkt betrifft die Unterschätzung gerade primär unter 60-Jährige, das Argument läuft also ins Leere. Auch beziehen sich die 88% auf doppelt geimpfte, nicht auf Leute mit Booster. Geschickt lässt sie hier auch nur die 88% stehen und vergleicht nicht mit dem Ausland. Nicht überraschend befindet sich Deutschland auch hier eher im hinteren Mittelfeld auf Platz 16.

Nun betrachtet sie auch noch die Erstgeimpften. Da wird es natürlich schwieriger zu vergleichen da wir nur die Daten über 60-Jähriger haben im europäischen Vergleich. Nehmen wir das Mittel an, also 95.5. Dann wären wir zumindest an 9. Stelle.

Bei der Studie handelte es sich aber lediglich um eine Telefonumfrage in deutscher Sprache. Wer nicht erreichbar ist oder kein Deutsch spricht, floss nicht in die Umfrage hinein. Wer mehrere Nummern besitzt, hatte ein theoretisch stärkeres Gewicht. Auch gibt es bei Umfragen immer eine Beeinflussung Richtung sozial erwünschtem Antwortverhaltens. In der Studie selbst wird gesagt, dass man deshalb nicht die absoluten Höhen der Impfquoten aus der Studie hernehmen sollte, die Studie sehr wohl aber zum Vergleich von verschiedenen Altersgruppen nutzen könnte. Die Studie die sie zitiert ist deshalb nicht in der Form belastbar ist, dass man die absoluten Zahlen hernehmen könnte um sie mit anderen Ländern zu vergleichen. Sie baut darauf, dass ihre Zuschauer nicht die zitierten Primärquellen lesen. Zum guten Ton, wann immer man eine Studie zitiert, zählt es, die Limitierungen der Studie auch zu erwähnen.

Dann sagt sie, die Impfung sei im Grunde wertlos, da sich Omikron so stark verbreitet. Aber Omikron verbreitet sich ja gerade deshalb, weil sie Immunisierung durch natürliche Infektion oder Impfung umgehen kann, zumindest was die initiale Infektion betrifft. Zusätzlich ist der temporäre Schutz durch Impfung gerade Älterer zurückgegangen. Genaue Zahlen gibt sie hier nicht an sondern stellt es einfach mal so in den Raum.
Dann führt sie eine britische Studie bzgl. Infektionen an. Diese Studie bezieht sich aber nur auf Delta, hat eine relativ kleine Teilnehmerzahl und zählt Booster nicht mit. In einer aktuelleren und größeren dänischen Studie zum Infektionsgeschehen in Haushalten wird dagegen sowohl Omikron als auch die Booster-Impfung einbezogen. Dort kann man klar die Situation ablesen. Mit der aktuellen Omicron Variante haben Ungeimpfte einen fast um Faktor 2 höhere Wahrscheinlichkeit, andere anzustecken. Bei Delta war es sogar fast Faktor 6. Im Herbst ging es primär um Delta und bei einem Faktor 6 kann man schon von einer treibenden Kraft sprechen. Bei Faktor 2 kommen wir natürlich langsam in den Grenzbereich.

https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2021.12.27.21268278v1.full
Dann macht sie eine Reihe von Schwarz-Weiß-Aussagen zur Impfung. Aber Impfung ist eben wie jede andere Maßnahme auch: sie drückt den R Faktor. Mit Kombination verschiedener Maßnahmen können wir den R Faktor auf 1 oder weniger drücken und somit eine Welle auslaufen lassen. Jedes bisschen hilft. Was hier aber angemerkt werden sollte ist ihre Manipulation. Sie stellt es dar, als wäre jetzt über die Monate hinweg die Wissenschaft endlich zu dem Schluss gekommen, dass die Impfung doch nicht helfen würde. Tatsächlich haben sich eben die Rahmenbedingungen mit Omikron geändert, eben von dem erwähnten Faktor 6 auf nur noch Faktor 2. Dass Impfungen nicht 100% wirken trifft im Grunde auf alle Impfungen zu. Eine 100% Lösung gibt es fast nie, es ist immer nur eine Verschiebung der Wahrscheinlichkeiten. Impfdurchbrüche gibt es auch bei Masern. Bei einem größeren Masernausbruch werden sich auch ein paar Geimpfte anstecken, erkranken und andere infizieren.
Als Nächstes zitiert sie eine Studie eines Ausbruchs in einem Gefängnis. Aber auch diese Studie hat Limitationen. Hier wurde lediglich geprüft, wie lange jemand PCR positiv war. Das interessiert letztlich niemanden. Die dänische Studie hat dagegen geprüft, wieviele der Kontaktpersonen PCR positiv war. Ein wesentlicher qualitativer Unterschied den sie nicht erwähnt.
Schließlich diskutiert sie eine schwedische Studie bzgl. der Schutzdauer durch die Impfung. Dort wurden allerdings nur zweifach Geimpfte betrachtet. Die Studie selbst unterstreicht die Wichtigkeit einer dritten Impfung, sagt also genau das Gegenteil aus. Auch bezieht sich die Studie nur auf Männer, Gebrechliche und Menschen mit Vorerkrankungen, nicht für alle. Alle anderen scheinen auch mit zwei Impfungen schon gut zu fahren. Auch muss man beachten, dass man im Oktober erst 9 Monate an Daten zur Verfügung hatte, wobei gerade die ältesten Daten von den ältesten und ggfs. gebrechlisten Menschen stammen.

https://www.science.org/doi/10.1126/science.abd4251